GASTBEITRAG - Carolin Schneider
Viele kleine Puzzleteile
Ich lebe seit April 2021 mit Long Covid und hatte schon viel Zeit, verschiedene Therapien auszuprobieren. Einige haben zu Rückfällen geführt, andere nur kurzfristig Erfolg gebracht. Nachdem ich nun die vielversprechendsten Ansätze ausprobiert habe, versuche ich, Long Covid anzunehmen. Die Energie, die ich vorher in den Kampf dagegen gesteckt habe, ist jetzt für mich frei verfügbar.
Statt über eine einfache Lösung möchte ich deshalb über die vielen kleinen Dinge schreiben, die mir im Alltag helfen. Es sind diese vielen kleinen Puzzleteile, die mich zusammen bisher weiter bringen, als die großen Projekte. Doch auch hier gilt, dass sie wie die Krankheit selbst individuell verschieden und oft auch tagesformabhängig sind.
Ohne meine Basis, die Allstars geht nichts:
Stress vermeiden! Körperlich versuche ich dies durch das Tracken meiner Pulsfrequenz zu realisieren, bei anderen Belastungen muss ich auf meine Frühwarnzeichen Schwindel, Kopfschmerzen und weiche Knie achten.
Pacing! Für mich heißt das: Eine Aufgabe oder einen Termin etwa alle zwei Tage zu planen, so dass immer einen Tag für mich zur Erholung frei ist.
Beim Erholen hilft mir mein Schlafsack im Wohnzimmer, der mit Schlafbrille und individuell angepassten Gehörschutz mein persönlicher Rückzugsort ist. Bis vor Kurzem habe ich außerdem auf Noise-Cancelling Kopfhörer geschworen, mit denen ich sogar halbwegs entspannt den ÖPNV nutzen konnte. Mittlerweile bereiten mir nicht nur visuelle, sondern auch auditive Reize Kopfschmerzen.
Um diese Kopfschmerzen zu lindern – oder mich von ihn abzulenken- , benutze ich gerne ein Coolpack auf der Stirn und eine Wärmflasche im Nacken, gleichzeitig. Mein Partner profitiert von Wärmecreme, Pfefferminzöl oder Tigerbalm. Ich mag diese Stoffe nicht und erziele einen ähnlichen Effekt durch heißes Duschen oder Haare, Gesicht und Bauch föhnen, wobei mich die Wärme und das Rauschen entspannen.
Für Muskelschmerzen im Rücken und in den Beinen nutze ich gern eine Faszienrolle oder einen Massageball. Seit Ellies Beitrag habe ich auch eine Flow gun, die absolut großartig ist!
Ich trage fast den gesamten Tag meine dunkelste Sonnenbrille. Da ich viel Fahrrad fahre, hat sie „nur“ den höchsten Absorptionsgrad, der im Straßenverkehr zulässig ist. In Deutschland sind das 92%, der höchstmögliche Absorptionsgrad meiner örtlichen Optikerkette ist 95%. Ich überlege, mir damit eine Bildschirmbrille fertigen zu lassen, denn die Benutzung eines Bildschirms, egal ob TV oder Laptop, ist für mich fast unerträglich. Selbst mit Sonnenbrille, Farbfilter, niedrigstmöglicher Helligkeit und technischen Maßnahmen wie Sprachsteuerung, Diktierfunktion und Sprachausgabe (text to speech) ist nur eine Stunde am Stück alle drei Tage möglich.
Um eines Tages wieder mehr Bildschirmzeit zu haben oder wieder Texte lesen zu können, mache ich regelmäßig Kreuzworträtsel bzw. Wortsuchspiele, wie sie mir in der Ergotherapie vorgelegt wurden. Außerdem trainiere ich nach einem Ansatz der Neuroathletik und der NeuroNation App. Doch auch hier trainiere ich gerade vor allem meine Geduld. 😉
Als sehr hilfreich erlebe ich soziale Kontakte. Ich bin in der glücklichen Lage, wöchentlich Psychotherapie in Anspruch nehmen zu können und profitiere von den Gesprächen mit einem empathischen Hausarzt. Es sagt schon viel über die Erkrankung aus, dass die Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens beim Stichwort Sozialkontakte hier an erster Stelle stehen! Meine wöchentlichen Highlights sind der Marktbesuch und das Beaufsichtigen eines befreundeten Hundes. So hat Frauchen Zeit für sich und ich meine Tagesaufgabe: 20kg Glück hegen und pflegen.
Mittlerweile erzähle ich fast jedem von Long COVID. Durch das Vernetzen habe ich schon angeheiratete Verwandte und Freundesfreunde kennengelernt, die ebenfalls erkrankt sind. Wir helfen uns via Email und WhatsApp über schlechte Tage hinweg und tauschen Tipps aus. Auch der ein oder andere Medienbeitrag oder Forschungsartikel kommt so schneller bei mir an. Leider gibt es ab und an auch komische Fragen, Abwertungen und Missverständnisse. Doch die waren bisher zum Glück selten. Umgekehrt durfte ich erfahren, wie glücklich es andere Menschen macht, wenn sie mir helfen können: mit einem Einkauf, einem Telefonanruf oder einer kurzen Internetrecherche. Mit einem kleinen Anliegen kreiere ich so schnell mal eine win-win-Situation und ein ungeplantes Kaffeetrinken.
Ich wünsche euch allen, dass ihr eure Bausteine und Puzzle-Teile findet, mit denen ihr ganz den eigenen, individuellen Bedürfnissen angepasst eure Tage so gestalten könnt, dass sie zu euch und eurem Energielevel passen.
Vielen Dank Carolin für deinen tollen Beitrag 🙂
Falls du auch einen Gastbeitrag veröffentlichen willst, melde dich gerne per Mail an kontakt.lebenmitlongcovid@gmail.com.